Einleitung (“Das Kerygma Jesu”)

Es ist unbestritten, daß der Seßhaftenkultur ein Nomadentum vorausgegangen ist, das nur in geringem Maße heute noch in einigen Gebieten der Erde vorfindbar ist. Die Rekonstruktion dieser Exitenzweise ist deshalb so schwierig, weil ideologisiertes Gedankengut die Errungenschaften der Seßhaftenkultur ganz allgemein als Fortschritt in der Menschheitsentwicklung ausgeben möchte, auch wenn deutlich geworden ist, daß das Zerstörungspotential nun doch keinen tatsächlichen Fortschritt darzustellen in der Lage ist. Außerdem unterliegt der Rückblick häufig einer romantifizierten Idealisierung vom “einfachen Leben”, das es so nicht gegeben haben kann, da die Unbilden des Wetters und wilde Tiere nicht als Intimfreunde der Spezies Mensch anzusehen sind.

In GuM (Gemeinschaft und Menschenrecht, 3. Aufl.) ist der Versuch unternommen worden, die Entstehung des Patriarchats aus seiner eigenen Reproduktion her abzuleiten. Wir verweisen auf diese Darstellung und konzentrieren uns hier auf spezielle religiöse Zusammenhänge, die deutlich machen können, weshalb eine “Botschaft” (neudeutsch für das, was eine Person tatsächlich sagen will) in einem Maße umgewandelt und mißgestaltet worden ist, daß die Dreistigkeit ihrer beharrlichen Weiterverkündung in dieser pervertierten Form Menschen dazu verführen kann, diese Absichten zu übersehen - womöglich nur deshalb, weil sie selbst nicht zu einer solchen Konstruktion eines Lügengebäudes in der Lage sind.

Doch dieselbe Dreistigkeit, die kaum glaubhaft zu sein scheint, hat auch die Menschen verwirrt, die den Versprechungen einer ungeklärten Zukunft gegenüber Vertrauen geschenkt und dabei ihre Lebenserfahrungen und deren Verarbeitung zugunsten der Auffassungen einer Clique aufgegeben haben, die vermeintliche “höhere Einsichten” gehabt haben will.

Die geschichtlich faßbare nomadische Existenzweise hat ihre wesentliche Bedrohung dadurch erfahren, daß mythische Elemente, gepaart mit herrschaftlichen Ansprüchen, eine andere Lebensart aufgezeigt haben, die den genuinen Gefühlen nicht zugänglich ist (siehe hier das Kapitel “Selbstentfremdung”).

Die Begegnung mit jenen Menschen, die ihre Relation zu den Nomaden mit ihrem privaten Glaubensbekenntnis gefüllt haben, um die eigene Position als überlegen darzustellen, hat die Nomaden mit Ideen und Vorstellungen konfrontiert, die offenbar bei etlichen auf Glaubwürdigkeit gestoßen sind. Das bedeutet, die Darstellung mythologisch verfärbter Selbstdarstellungen hat ganz offensichtlich nicht immer auf die nötige Art und Weise kritisch hinterfragt werden können.

Wir müssen aus der Entwicklung schließen, ähnlich wie wir das von Kolumbus in der Begegnung mit den Indianern wissen, daß diese Fremden, die Anderen, ohne weiteres als überlegen akzeptiert worden sind. Das selbst nicht Erfahrbare kann nach unkritischer Akzeptanz ausreichend Ehrfurcht wecken.

Im Hinblick auf die soziologische und rechtliche Entwicklung können wir davon ausgehen, daß der ursprünglich selbstverständliche Umgang des: “ich” gleich “Selbst” und “du” gleich “Nichtselbst” konfrontiert worden ist mit einem Umgang des: “ich” gleich “besonderes Selbst” und “ihr” gleich “die Empfänger höherer Botschaften”. Der Umgang des Selbstverständlichen wird zu einem Versorgungsumgang, was sich soziologisch äußert und auch Eingang in den rechtlichen Sprachgebrauch findet. Der reine “ich/du” Umgang bleibt den Führern und Bossen vorbehalten. Wir können das auch in der Entwicklung des Islam beobachten, daß das Bild des Hirten und der Herde eine entscheidende soziologische Komponente geworden ist.

Die Führerpersönlichkeiten brauchen zur Abstützung ihrer Position rechtliche Regeln, vor allem gegenüber und innerhalb der Herde. Als günstig hat sich erwiesen, daß die zivilrechtlichen Regeln durch das Durchgangsstadium der strafrechtlichen Regelung Feindbilder hervorbringen, was sich dann besonders im Kriegsrecht äußert.

Wenn erst einmal ungläubiges Staunen den Fremden gegenüber auftaucht, das dann in gläubige Ehrfurcht umgewandelt werden kann, entsteht die erste zivilrechtliche Regelung zur Einforderung von Ehrfurcht (siehe die biblischen Gebotsregelungen gegenüber Gott und den Eltern).

Der nächste Schritt, von der eingeforderten Ehrfurcht ausgehend, führt zu einer Fixierung von Grenzen, die mit der persönlichen Position auch die persönliche Habe sichern sollen (“du sollst nicht stehlen” usw.). Es werden dann konsequenterweise Versprechen (z.B. im Hinblick auf mögliche oder gar sofortige Belohungen) abgegeben, die Gratifikationen erlauben oder absprechen.Die wichtigste Belohnung ist die Zugehörigkeit: “du bist doch eine/r der unseren”. D.h. die formale Zugehörigkeit darf unter keinen Umständen verleugnet werden. Daraus resultieren dann Namen: Familiennamen, Stammesnamen usw. Es ist dann nur konsequent, daß bei diesem Formalisierungsprozeß Umgang als “gut” bezeichnet werden darf, wenn er dem Clan nutzt, bzw. als “böse”, wenn er der Meinung der Clanführung nach dem Clan schadet.

Nun ist es oft so, daß der eine Umgang in der einen Situation erwünscht ist, in der anderen aber nicht. Wer soll nun sagen, wann welcher Umgang erwünscht ist? Wenn man es dem Volk überläßt, gibt es ein Durcheinander. Also brauchen wir weise, kluge und erfahrene Männer, die diese Urteilsfähigkeit besitzen.

Jetzt haben wir eine Ahnung, daß dadurch bereits Sitte, Zucht und Ordnung herrscht. Eines fehlt noch: die Eroberung der Zukunft. Zukunftsweisende Regelungen mußten erlassen werden, die den Erhalt des Stammes, den Erhalt der Reproduktion regulieren (also reglementierte Sexualität). Diese Zukunftsvorsorge für den Stamm geht einher mit der Entwicklung reglementierter Altersversorgung.

Diese Phase wird abgesichert durch die religiöse Überhöhung der Stammesmitte, mit Hilfe eines Heiligtums. Im Sinne der freien Marktwirtschaft konkurrieren dann Heiligtümer. Das führt dazu, daß die Verehrung der Stammesgottheit nicht exklusiv gehandhabt wird, sondern es ist die Toleranz anderer Stammesgottheiten gefordert. Das Tor zur Bildung eines Pantheons, also einer Vorstellung mit mehreren Gottheiten, ist geöffnet (siehe dazu Gemeinschaft und Menschenrecht, 2. Aufl.). Wir können aus diesem Zusammenhang leicht andere Mythen ableiten: die normative Kraft (lat.: potentia) der Führungsschicht, einschließlich der Regelung der Anwendung von Erbgut und der Informations- und Bildungsrechte. Nützlichkeitsvorstellungen heiligen die Mittel, um die Interessen der Führungsschicht zu schützen. Daraus resultieren die Eingriffe in das Recht auf Intimität. Die Verfügbarkeitsvorstellung wird fast wie nebenbei durch Rechtsrituale eingeführt. Das hat auch einen Nachteil für die Führungsschicht: diese Reglementierungen wecken Begehrlichkeit. Da hilft nur eins: Entmündigung der Herde und Einbinden der Energien der Begierde in den Mythos von der Verbesserung.

Nach dieser wundersamen und ehrfurchtsvollen Basierung des noch heute handelsüblichen Supranaturalismus ist die Verwechslung von Wahrheit und Existenz von Vorstellungen schon fast zwangsläufig. Die kulturbildenden Maßnahmen erster Staatsbildungen bestehen dann darin, daß Heiligtümer für die Übernahme von Vorausurteilen bei der Herde sorgen. Diese Phase der Entwicklung bringt dann auch die entsprechende Rechtsfortschreibung mit sich. Es müssen Sozialregelungen entwickelt werden, auch für noch tragbare soziale Randgruppen. Die Einbringung von Negativbestimmungen teilt den weisen Männern beim Urteilen Ermessensspielräume zu. Die Umwandlung von Hingabe und des daraus resultierenden existentiellen Engagements in Hergabe bringt Zugehörigkeitspflichten durch Spezialregelungen hervor: Abgabenordnungen und Steuerrecht gehören zum Arbeitsgebiet der Tempelwirtschaft.

Die Herde ist nun mittlerweile eingeübt in normgebende Verfahren, so daß auch rückwirkende Gesetzgebung stattfinden kann zur Absicherung priesterlicher Einkünfte. Es werden neue Texte “gefunden”, die altertümlich klingen, und als “Gabe des Himmels” (o.ä.) erklärt (siehe die Tempelreform des Josia in 2.Kön.22f). Sie stellen vor, daß jetzige Entwicklungen und Forderungen eigentlich schon immer so von der Gottheit vorgesehen gewesen sind. Dabei handelt es sich um ein Muster, das bei allen Tempelreformen und Reformationen wiederkehrt.

Logischerweise muß jetzt auch die Monopolgesetzgebung einsetzen. Eine Variante dazu ist die Einführung des Numerus clausus, sprich: der Zulassungsbegrenzung zu den staatsführenden Ämtern. Göttliches Selbstverständnis äußert sich in den Offenbarungen die - oh “Zufall” - immer auch konkrete Handlungsanweisungen enthalten. Die Geburt der Offenbarungsreligionen ist zu feiern.

Religionswissenschaftlich müssen wir unterscheiden zwischen Visionen und Auditionen. Dabei ist zu beobachten, daß die Offenbarungsreligionen, die sich auf Auditionen berufen, eine große historische Wirksamkeit entfalten können, (Zarathustra hat ausdrücklich Wert darauf gelegt, daß seine Offenbarungen über das Ohr gegangen sind, ebenso Mohammed, ebenso Paulus, der Kirchengründer) wobei Visionen nach Nützlichkeit verwendet werden. Wichtig bei der Entwicklung ist, daß nun Effekt und Intention bei der Herde religiös identifiziert werden können. Es können der Effekt des Hörens auf die Offenbarungsinhalte und das daraus resultierende Know-how des Verhaltens intendiert werden. Aus dem hinhörenden Gehorsam wird ehrfurchtvolles untertäniges Gehorchen. Da das “Recht auf sich selbst” durch göttliche Eingebungen geregelt ist, öffnet sich für die Fantasie ausreichender Spielraum zur Produktion religiös relevanter Geschichten.

Monopolisierung führt eben auch zum Expertentum (“die Wissenschaft hat festgestellt...”). Die Vergeistigung führt in den Zustand, Geistlichkeit zu benötigen (z.B. heutzutage in Ethik-Kommissionen). Ganz nebenbei wird natürlich die MKK (“Muskel-Kampf-Kraft”) und damit auch die Arbeitskraft hochgewertet. Das patriarchale System schenkt dadurch den Männern eine völlig neue Selbstachtung. Gegenüber der vorigen (tatsächlich oft so genannten) primitiven nomadischen Existenz bedeutet der Ausbau des Kampfgeistes beiMännern eine notwendige Heil-Kur zur endlichen Gesundung des Mannes. Eine in Kauf zu nehmende Nebenwirkung dieses spirituellen Medikaments besteht im Übersehen der Frauen. Die Aufhebung dieser Nebenwirkung bedarf einer eigenen Medikation: die Einführung der Frau als taugliche Täterin (“Eva” usw.; Hexe u.ä.), zwecks Durchdringung des weiblichen Geschlechts mit esoterischem Flair (religiös bis heute gültig auf dem Gebiet der Fürsorge; auch intrafamiliär als Sorge nicht unbekannt). Als Konsequenz der Einführung der Frau als taugliche Täterin wird auch der ausgestaltete Umgang mit der Schuldfrage zu einem ausgesprochen wichtigen Aspekt gesellschaftlichen Fortschritts. Männer können schuldig werden, wenn sie die Frau nicht ausreichend kultivieren (siehe Adam und Eva: Adam wird mitbestraft).

Eine besondere Phase ist die des Gottkönigtums. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Raub, daß der weltliche Herrscher sich ohne Priesterschaft in unmittelbare Beziehung zu einer Gottheit bringt, erweist sich in Wahrheit als ausgesprochen kluger Schachzug der Priesterschaft. Macht der Gottkönig alles, was sie wollen, ist er ein guter König. Wird er zu gierig, geschieht ihm etwas Unvorhergesehenes (siehe Josia: er hat den Priestern Rechte wegnehmen wollen, und kurz vor einer Schlacht starb er unter mysteriösen Umständen). “Na schalam”, sagen die Araber: Gott hat es so gewollt.

Die mit dem Gottkönigtum ermöglichte Trennung der Arbeitsbereiche erweist sich auch in parlamentarischen Demokratien als hilfreich (das reicht bis in die Medien: die Balkan-Partner werden entweder ethnisch bezeichnet, falls sie Christen sind - [orthodoxe] Serben und [römisch-katholische] Kroaten -, oder mit ihrer Religion - Muslim). Diese Trennung der Arbeitsbereiche macht die Einführung psychologischer Begutachtung notwendig: uneinsichtige Andersartigkeit muß als Abartigkeit definiert werden. Das hat noch folgenden zusätzlichen Zusammenhang: die Produktion religiöser Wahnvorstellungen, z.B. im Angebot an das Herdenmitglied, so werden zu können wie eine Gottheit, durch Erfüllung entsprechender Forderungen, muß differentialdiagnostisch von Auswüchsen des gesunden Menschenverstandes unterschieden werden. Zwar wird uns in Genesis 3 der Wunsch, so werden zu wollen wie Gott, als Sünde dargestellt (so werden wie ein König, so werden wie ein Priester ist dem vergleichbar), doch weitergehende notwendige Entwicklungen müssen der Herde ein Jenseitsparadies anbieten, um den Unterschied zwischen Jammertal der Untertanen und Füllhorn der Herrschenden auszugleichen.

So kann es geschehen, daß in einer Religion, die weltweite Bedeutung erlangt hat, dieses Streben nach wie vor als Sünde beschrieben wird und gleichzeitig die Nachahmung einer Gottheit (z.B. Reden wie diese) als erstrebenswert ausgegeben wird. Interessant ist dabei, daß das Ziel, irgendwie Gott ähnlich zu werden, leichter zu erreichen scheint, als das Ziel, König zu werden. Bei dieser Entwicklung muß die Arbeit durch die Tarnung der Feierpflicht einforderbar werden. “Sechs Tage sollst du arbeiten und am siebten ruhen”. Wir hören bei diesem Satz nur noch, daß wir am siebten Tag ruhen sollen und nicht, daß wir sechs Tage arbeiten sollen.

Die Klugheit der Entwicklung liegt bei der Reglementierung des Weges von der Arbeit zur Abgabe, denn bei den religiösen Feiern müssen ja Opfer gebracht werden, wobei großzügigerweise Armen der Kinderreichtum als Ersatzleistungsmöglichkeit angeboten wird. Also: wenn jemand ein Tier braucht für seine Arbeit, ist es Unsinn, ihm das Tier wegzunehmen, dann wird er zur Last der Gemeinschaft: stattdessen wird der (ein) Sohn als Arbeitskraft für den Tempel (Wachpersonal z.B.) als Ausgleich akzeptiert, wie es im alttestamentlichen Anspruch auf jede Art von Erstgeburt zum Ausdruck kommt.

Ein weiterer Rechtsfortschritt in dieser Phase ist das Racheverbot ( Lev. 19,18)und die Erfindung des heiligen Krieges ( Dtn. 32,35; in der Luther-Bibel übersetzt mit “Die Rache ist mein, ich will vergelten” - spricht der Herr; “Vengeance is mine, and requital” übersetzt The Jerusalem Bible ed.1968; ...und “Vergeltung” gibt Gesenius/Buhl S.837 an, übrigens als einzige Stelle! Kundige werden in den drei Radikalen S L M “Schalom” = Friede usw. erkennen und sich denken dürfen, daß der Vorschlag von GB interessegeleitet ist.). Hier kommt noch eine andere juristische Regel zur Anwendung: Recht ist, was von Gesetzes wegen für Recht erklärt wird. In dieser Phase gibt es zusätzliche Wettbewerbsbeschränkungen auf religiösem Gebiet. Auf diese Art und Weise wird auch die Herde ordentlich berechenbar.

Der Fortschritt zeigt sich in der Beendigung von Selbstjustiz und ungeregeltem Priestertum. Die weitere Entwicklung des Fortschritts birgt dann formale Ausgestaltung der Solidargemeinschaft der Herde. Eindeutige Gesetze im Hinblick auf Maße und Gewicht bringen bessere Berechnungsmöglichkeiten für Abgaben und Zukunftsplanungen.

Interessant ist, daß die Berechenbarkeit der Herde einhergeht mit der Berechenbarkeit Gottes. Bei Verstoß gegen die geoffenbarten Regelungen einer Gottheit drohte göttlicher Zorn und Vernichtung, spätestens im Jenseits. Heils- undKultpropheten dienen als Steuerungselemente der Herdenmentalität. Wirklichkeit ist, was von diesen priesterlich angeleiteten Propheten und Seelsorgern als solche ausgegeben worden ist.

Religionsgeschichtlich ist interessant, daß das Amt des Propheten zugunsten des Seelsorgeamtes aufgegeben worden ist. Im Islam ist Mohammed der letzte Prophet, im Christentum wurden die letzten als Ketzer ausgeschieden und im Buddhismus gibt es sie überhaupt nicht.